Mit dem Fahrrad von Leipzig an die Ostsee an einem Tag
20. Ostseetour 2019 - Bericht eines Ruderkameraden
Seit 2000 gibt es jedes Jahr eine Ostsee-Tour. Damals hatte sich Frank Maasdorf vorgenommen, innerhalb von 24 Stunden von Leipzig an die Ostsee zu fahren. Aus der geplanten One-Man-Tour organisierte sich schnell ein echtes Peloton, das seitdem vom viermaligen DDR Straßenmeister Martin Goetze angeführt wird. Inzwischen ist Frank der als Jugendlicher schon ruderte, wieder im RCE aktiv (Red.). In diesem Jahr sollte es nach Juliusruh, an die Nordküste Rügens gehen. Dies ergibt eine ca. 510 km lange Distanz vom Augustusplatz in Leipzig aus. An einem Vereinsabend im Frühjahr kam Frank auf mich zu und fragte: „Belle, willst du mitmachen? Das wird für dich kein Problem! …“ Natürlich konnte ich mir solch eine außergewöhnliche Tour nicht entgehen lassen. Der persönliche Ehrgeiz war geweckt und die Vorbereitungen begannen. Etliche Trainingskilometer sollte man schon auf der Uhr haben, um an so einem Event teilzunehmen. Wie viele es bei mir genau waren, lässt sich an dieser Stelle nicht mehr nachvollziehen. In den letzten 3 Wochen vor dem Start waren es wöchentlich ca. 300km.
Zur Vorbereitung gehört natürlich auch ein ordentliches Strecken-Versorgungskonzept. Oben im Bild sieht man rund 12.000 kcal auf dem Tisch liegen – entspricht der ungefähren Menge, die man an so einem Tag verbrennt.
00:45 Uhr – Der Wecker klingelt… man möchte es nicht wahrhaben, dass es so früh aus den Federn geht, ist aber gleichzeitig adrenalingeladen. Das Gepäck wird noch mal geprüft, am Vortag hatte ich bereits alles gepackt – hier dürfen keinerlei Fehler passieren.
01:15 Uhr – Die S-Bahn Richtung Leipzig Markt nimmt Fahrt auf. In den Gedanken geht man alles noch mal detailliert durch. „Habe ich an alles gedacht…?“, „Wie teile ich meinen Proviant ein?“, „Wie agiere ich bei einen Reifenplatzer?“ „Hoffentlich hält das Material, …hoffentlich hält der Körper!“
01:35 Uhr – Ankunft Augustusplatz Leipzig. Wow! Es sind schon verdammt viele Leute da. 140 Starter insgesamt, einer sportlicher als der andere. Eine beeindruckende Altersspanne war präsent. Schnell noch ein „Vorher“ Foto an der Fotobox aufgenommen, das Gepäck auf den Begleitfahrzeugen verstaut und dann ging es schon in die Startformation.
02:10 Uhr – Startschuss. Es war ein ziemlich unreelles Gefühl, bestehend aus Müdigkeit, Adrenalin und etwas Sorge vor den drohenden Gewitterzellen um einen herum. Im Minutentakt zuckten Blitze am Horizont, als wir uns den Weg durch Leipzig, der B2 Richtung Wittenberg entlang, bahnten. Ein beeindruckendes Starttempo von durchschnittlich 35km/h verdeutlichte: Hier sind alle fit.
04:55 Uhr – Erste Etappe geschafft. Nach 83km gab es den ersten Stop auf einem Parkplatz in Lutherstadt Wittenberg. Getränke und Energievorräte wurden nachgefüllt. Anschließend ging es direkt weiter - es gilt, keine Zeit zu verlieren.
08:05 Uhr – Ankunft Fähre Ketzin (Bild unten). Der Pulk musste in Ketzin an der Havel übersetzen. Eine willkommene Pause.
12:00 Uhr – Mittagspause. Angekommen in Canow gab es die heiß ersehnte Portion Nudeln mit roter Soße, serviert vom netten Personal des Gasthauses zur Schleuse. Nach knappen 10 h on Tour waren das gefühlt die leckersten Nudeln, die ich je gegessen habe. Mittlerweile merkt man deutlich – das wird heute nicht selbstverständlich, jede Etappe zu absolvieren. Die Temperaturen und der teils starke Wind fordern einen einiges ab. Schmerzen an Füßen, Händen und Gesäßteil sind vorhanden. Man merkte dies auch einigen Teilnehmern des Feldes an. Vermutlich immer noch vorhandene Müdigkeit, gepaart mit Erschöpfungserscheinungen führten dann zu mehr oder weniger heftigen Stürzen im Feld. Ich bin zum Glück überall gut durchgekommen.
15:10Uhr – Parkplatz Möllenhagen (Bild oben). Es wird immer deutlicher, dass es hinten raus unglaublich knapp mit den Energiereserven wird. So langsam läuft man im roten Bereich und man hat den ständigen Schmerz akzeptiert. Man versucht sich an allen möglichen Dingen zu motivieren. Ziemlich oft ging mir ein Zitat der bekannten niederländischen MMA Legende Bus Rutten durch den Kopf: „It’s only pain, it will not hurt you.“ – zu Deutsch: „Es ist nur Schmerz, er wird dich nicht verletzen.“
An die nun folgenden Zwischenetappen kann ich nicht mehr wirklich erinnern. Vermutlich wurde sämtliches Blut inkl. Sauerstoff zum Erhalt der Körperfunktionen benötigt 😉.
Beginn Vorletzte Etappe – Startzeit unbekannt. Bevor wir loslegten, gab es nahezu hitzige Diskussionen im Feld, ob eine Regenjacke aufgrund des herannahenden Gewitters notwendig sei. Positiver Nebeneffekt des Tiefdruckgebietes – die Temperaturen sanken auf angenehme Werte. Ich entschied mich, meine Regenjacke anzuziehen, was sich als goldrichtig herausstellte. Ungefähr nach 20min auf der Straße begann ein Wolkenbruch, der seines Gleichen sucht. Hier machte sich der Materialvorteil 'Scheibenbremse' bemerkbar. Felgenbremsen-basierte Rennräder hatten ganz gut zu tun, um ihre Räder bei Kurven oder Hindernissen abzubremsen. Ich versuchte durch das Hochziehen der Nase die Sonnenbrille an die Unterkante meines Helmes zu drücken. Das wehrte den Regen besser ab, sah sicher lustig aus. Es erwies sich aber als äußerst effektiv. Kurz vor Stralsund angekommen, freute ich mich schon auf die versprochene Pause und richtete mich mental darauf ein. Tja, Pech gehabt - leider hatten hatten wir uns in Stralsund verfahren. Vor dem letzten Zwischenstop entschied man sich noch für die „kleine“ Rügen Brücke inklusive einiger Rügen-Kilometer.
Die letzte Etappe – 55 km bis zum Ziel. Die Pause nutzte ich, um sämtliche Energie-Booster und Riegel, die mir verblieben waren, entweder aufzuessen oder mein Trikot damit zu bestücken. Die Wasserflaschen ein letztes Mal gefüllt, und es ging los. Die letzten 55 km auf der Insel Rügen. Auch hier kann ich mich an den genauen Ablauf nicht mehr groß erinnern. Wir haben einige Anstiege und nicht weniger schwierige schnelle Abfahrten bewältigt. Alle Teilnehmer wurden inklusive des Materials im letzten Drittel der Etappe von einer ca. 1,5 km langen Kopfsteinpflaster Straße noch mal auf das äußerste geprüft. Dann endlich nahte unser aller Ziel. Juliusruh, noch 9 km entfernt. Ja, ich wurde leicht emotional, da ich mir nun absolut sicher war, dass ich das Ziel erreichen werde. Ungefähr 18min später verlangsamte sich das Feld. Wir passierten den Ortseingang von Juliusruh. Ein toller Moment. Doch an dieser Stelle dachte ich nur: „Wo ist jetzt dieser verdammte Strand? - Ich will an den Strand!“
5 min später war es dann soweit. 22:30 Uhr Ortszeit rollten wir auf den Strand zu. …Ein unbeschreiblicher Moment. Nach 20 h und 20 min waren wir endlich da. Ich konnte es zu dem Zeitpunkt gar nicht wirklich realisieren, was wir da geleistet haben. Ich war einfach überglücklich durchgehalten und nicht aufgegeben zu haben. Der Abend gestaltete sich dann selbstverständlich eher ruhig und es verkrümelte sich jeder ziemlich rasch in seine Gemächer.
Der nächste Morgen brach an – herrlicher Sonnenschein und ein wunderschöner Strand begrüßte uns zur „Taufe“. Wir wurden von keinen geringeren als Martin Goetze zum „Giganten der Landstraße“ getauft. Vor lauter Stolz war es schwer, nicht permanent zu grinsen. Anschließend gab es noch ein erfrischendes Bad in der 16°C warmen Ostsee, bevor wir unsere Heimreise per Bus antraten.
Zum Schluss noch mal einen herzlichen Dank an alle Helfer, Organisatoren und Unterstützer, insbesondere Frank Maasdorf, für die hervorragend umgesetzte 20. Ostseetour.
Die Plätze für 2020 sind sicherlich wieder schnell vergriffen. Meldet Euch, wenn auch Ihr mal so ein Abenteuer erleben möchtet. Ich bin nun auf jeden Fall infiziert.
Sportliche Grüße,
Florian Bellrich